Zur Bannandrohungsbulle vom 15. Juni 1520
Nach dem 31. Oktober 1517 mit der Veröffentlichung von Luthers 95 Thesen ist der 15. Juni 1520 das zweite wichtige reformationsgeschichtliche Datum, an dem die Bannandrohungsbulle gegen einen „gewissen Martin Luther“ sowie „seine Anhänger, Helfer, Gönner und Beherberger“, von der römischen Kurie offiziell ausgestellt wurde. Dem folgten wenig später am 3. Januar 1521 die Exkommunikation Luthers und aller seiner Anhänger durch Papst Leo X. und am 18./19. April der Schlagabtausch zwischen Luther und Kaiser Karl V. auf dem Reichstag zu Worms. Die Auseinandersetzungen zwischen reformatorischer und römischer Bewegung spitzten sich also seit dem 15. Juni 1520 ganz erheblich zu wie zwei mit zunehmender Geschwindigkeit aufeinander zu rasende Schnellzüge.
Die noch heute wichtige Bedeutung der Bannandrohungsbulle liegt darin, dass sie das einzige öffentliche Dokument aus der Frühzeit der Reformation ist, das sich auf katholischer Seite mit der reformatorischen Theologie wenigstens ansatzweise auseinandersetzt, während die spätere päpstliche Bannbulle nur machtpolitisch orientiert ist. Wie ist die Bannandrohungsbulle entstanden, was besagt sie inhaltlich und welche Folgen hat sie gezeitigt?
- Vorgeschichte
Sie ist das Ergebnis einer viermonatigen intensiven Beschäftigung mit Luthers neuer Theologie, wie es das vorher und hinterher in Rom nie wieder gegeben hat. Daran waren drei theologische Kommissionen von Februar bis Mai 1520 beteiligt, in denen die damals führenden theologischen Köpfe wie die Kardinäle Cajetan und Accolti, die Theologieprofessoren Johannes Eck aus Ingolstadt und Johannes Hispanus aus Rom sowie die Ordensgeneräle der Franziskaner und Dominikaner mitwirkten. In monatelanger intensiver theologischer Arbeit haben sie Luthers Schriften studiert, seine Thesen diskutiert und schließlich Urteile definiert. Man kann und sollte diesen theologischen Bemühungen Achtung und Anerkennung nicht versagen, wenn sie auch im Text der Bannandrohungsbulle nur teilweise zum Tragen gekommen sind. Jedenfalls geht aus diesen theologischen Arbeiten in der ersten Hälfte des Jahres 1520 deutlich hervor, dass man in Rom den Ernst der reformatorischen Herausforderung erfasst hatte und ihr zunächst auch auf theologischer Ebene zu begegnen versuchte.
- Inhalt
Die Bannandrohungsbulle gliedert sich in einen situationsbezogenen Eingangsteil, einen ausführlichen theologischen Hauptteil und einen personenorientierten Schlussteil. Die Bulle wird mit der Anrufung Gottes am Ende des Klagepsalm 74 (V. 22 f) eröffnet: „Erhebe dich, o Herr, und verschaffe deiner Sache Recht…“: daher der berühmte lateinische Name: Exsurge Domine. Dieser Hilfeschrei gibt von vornherein etwas von der Hilflosigkeit zu erkennen, in der sich Rom angesichts der sich täglich ausbreitenden reformatorischen Bewegung wieder- fand. Deren unwiderstehliche, an die hussitische Bewegung hundert Jahre zuvor erinnernde Macht beschreibt die Bulle mit gleichermaßen symbolischen wie diskriminierenden Tiernamen: Fuchs, Eber, Wildschwein. Demgegenüber werden in einem Atemzug Christus, Petrus, dessen Nachfolger und die (bis dahin) siegreiche Kirche als Gegenpol für sich in Anspruch genommen. Damit sind die Fronten klar abgesteckt: Christus gegen Wildschwein; siegende Kirche gegen verwüstende Tiere.
Im Hauptteil der Bulle werden 41 Sätze aus Luthers Schriften zitiert, die bis auf einen (Nr. 25 zum Papst!) als authentische Wiedergaben nachgewiesen sind. In dieser Hinsicht haben die „Bullisten“, wie Luther sie nannte, sorgfältig gearbeitet! Inhaltlich geht es um drei Themenbereiche: 1. Sakramente (Nr. 1-16), 2. Kirche (Nr. 17-30), 3. Christenstand (Nr. 31-40). Bei den Sakramenten steht die Buße und Luthers Auseinandersetzung mit dem Ablass im Vordergrund. In der Abendmahlsfrage setzt sich Luther mit Berufung auf ein „allgemeines Konzil“ für den Laienkelch ein und nimmt die Tschechen in Schutz, was ihn für römische Augen in die Nähe des auf dem Konzil von Konstanz 1415 verbrannten Ketzers Jan Hus brachte (Nr. 16). Beim Thema Kirche kommt Luthers kritische Stellung zur Autorität des Papstes zur Sprache, dem man aus seiner Sicht widersprechen darf, „bis durch ein allgemeines Konzil die eine Ansicht verworfen, die andere bestätigt wird“ (Nr. 28). Schließlich hält Luther zugunsten des Christenstandes und gegen römische Angstmacherei fest, dass „das Fegefeuer aus der Heiligen Schrift nicht erwiesen werden“ kann (Nr. 38). Bei Luthers 41 Sätzen handelt es sich also, wie hier nur exemplarisch gezeigt werden kann, um teilweise bis heute durchaus diskussionswürdige Themen zu Eucharistie, Papst und Es´chatologie.
Die Problematik der Bannandrohungsbulle liegt nicht darin, diese 41 Sätze aus Luthers Schriften, wenn auch ohne ihren Zusammenhang, zu zitieren, vielmehr darin, dass sie – im Unterschied zu den theologischen Kommissionen im Vorfeld – auch nicht den geringsten Ansatz unternimmt, diese als „ketzerisch“ gebrandmarkten Thesen zu widerlegen. Hier hat sich gegenüber dem behutsameren Kardinal Cajetan Luthers Hauptgegner Johannes Eck durchgesetzt, der schon ein Jahr zuvor in der Leipziger Disputation einen Punktsieg gegen Luther errungen hatte. So formuliert die Bannandrohungsbulle ganz pauschal ohne jede Differenzierung („censura“, Denzinger Nr. 1492): „Die vorstehenden Artikel oder Irrtümer verurteilen und verwerfen wir insgesamt und einzeln….als ketzerisch, anstößig und falsch…. und weisen sie insgesamt zurück“ (damnamus, reprobamus atque reicimus). Dieses Vorgehen widersprach schon damals den Regeln eines Ketzerprozesses. Ebenso pauschal verfährt die Bulle mit „allen Schriften oder Predigten des erwähnten Martinus“.
Dagegen unterscheidet die Bannandrohungsbulle wieder regelkonform zwischen den theologischen Sachthemen und der Person ihres Verfassers, dem sie sich im abschließenden dritten Teil zuwendet. Luther und seinen Anhängern werden 60 Tage zum Widerruf zugestanden. Sollten sie dem jedoch nicht folgen, so lässt die Bulle keinen Zweifel daran, „für jetzt und für später“ zu erklären, „dass sie ausgesprochene und hartnäckige Ketzer waren und sind; wir verurteilen sie als solche“. Ulrich von Hutten hat dazu in seinen Randbemerkungen zur Bulle scharfsinnig erkannt: „Hier geht es ja nicht um Luther, sondern um alle; nicht nur gegen einen wird das Schwert erhoben, sondern uns alle greift man öffentlich an.“
Unterzeichnet ist diese Bulle, die in Papst Leo´s Namen abgefasst ist, jedoch nicht von diesem selbst wie wenig später die Bannbulle des 3. Januar 1521, sondern von dem Kurialbeamten Domicelli de Comitibus. Hier führt die vor-letzte Instanz im römischen Autoritätsgefüge die Feder. Einerseits wird der reformatorischen Bewegung eine Galgenfrist von zwei Monaten eingeräumt, andererseits wird mit der Veröffentlichung der Bulle ein unübersehbares öffentliches Ausrufungszeichen gesetzt, deutlicher gesagt: eine machtpolitische Drohkulisse aufgebaut. Denn es wird ausdrücklich angeordnet, die Bulle an den Kathedralen der Metropolen in den Niederlanden sowie im Westen und Osten des Reichs Karls V. öffentlich anzuschlagen.
- Folgen
Wie hat Luther auf die Bannandrohungsbulle reagiert? Er erfuhr von ihrer Existenz im August, bekam ihren Inhalt aber erst nach ihrem öffentlichen Anschlag in Wittenberg am 10. Oktober zu Gesicht. Bereits im August hatte der päpstliche „Kammerjunker“ Karl von Miltitz mit Luther einen Vermittlungsversuch abgesprochen: Luther schrieb seine bekannteste Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ und sandte sie mit einem auf den 6. September vordatierten Sendbrief an Papst Leo X. in Rom. Darin spricht Luther den Papst als „Heiliger Vater Leo“ an, den er nie persönlich habe angreifen wollen, wohl aber den römischen Stuhl, der sich zum Statthalter des abwesenden Christus erhoben habe: „Was mag aber auch denn ein solcher Papst sein denn ein Endchrist und Abgott?“ Der Hannoveraner Bischof Horst Hirschler kam während des ökumenischen Gottesdienstes mit Papst Johannes Paul II. am 22. Juni 1996 im Paderborner Dom auf diesen Sendbrief zu sprechen und meinte, das Original von Luthers Schreiben müsste im vatikanischen Archiv noch aufzufinden sein. Es ist jedenfalls bemerkenswert, dass ausgerechnet ein Katholik aus Rom Luther zu seiner vielleicht populärsten und schönsten Schrift über die Freiheit eines Christenmenschen angeregt hat.
In den beiden anderen Entgegnungen auf die Bannandrohungsbulle, die Luther im Herbst und Winter 1520/21 zu Papier brachte: „Wider die Bulle des Endchrists“ und „Grund und Ursach aller Artikel, so durch die Römische Bulle unrechtlich verdammt sind“, geht der Reformator weit weniger diplomatisch vor und lässt z. T. seinem Ärger freien Lauf. Er fordert den Papst seinerseits zur Rücknahme der Bulle auf, anderenfalls dieser ohne Zweifel der „Antichrist“ sei. Schließlich appelliert Luther im November 1520 erneut, wie schon zwei Jahre zuvor im Oktober 1518, an ein „christliches, freies Konzil“, das nach seiner festen Überzeugung in der Rangordnung über dem Papst steht. Diese verschiedenen (Über-) Reaktionen Luthers auf die Bannandrohungsbulle – er verfasste insgesamt 5 Schriften dazu in wenigen Monaten – belegen: Er wusste, was nun auf dem Spiel stand, dass es jetzt nicht nur um seinen Kopf und Kragen, sondern um Leben oder Tod der gesamten reformatorischen Bewegung ging.
Die päpstlichen Gesandten Aleander und Eck machten sich bereits im Herbst 1520 daran, die in der Bannandrohungsbulle angedrohte Verbrennung von Luthers Büchern in die Tat umzusetzen, noch ehe die für einen Widerruf zugestandene Frist von zwei Monaten abgelaufen war. So geschah es am 8. Oktober in Löwen, am 15. Oktober in Lüttich, am 12. November erstmals auf deutschem Boden in Köln, am 28./29. November in Mainz und Anfang Dezember in Halberstadt. Vor allem die Kunde von den Bücherverbrennungen in Köln und Mainz versetzten die Reformatoren derart in Aufruhr, dass sie nun ihrerseits nach Ablauf der 60-Tage-Frist am 10. Dezember 1520 vor dem Elstertor in Wittenberg sowohl die Bannandrohungsbulle als auch das Kanonische Recht den Flammen übergaben. Damit war das Tischtuch endgültig zerschnitten und es folgte drei Wochen später die von Papst Leo X. persönlich unterzeichnete Exkommunikation Martin Luthers und aller seiner Anhänger. –
Inwiefern gehen uns diese Vorgänge nach 500 Jahren an? Jeder, der Augen hat zu sehen, weiß und sieht es: Der mit der Bannandrohungsbulle vom 15. Juni 1520 beschrittene Weg führte zur Spaltung der Kirche im Westen, die heute glücklicherweise erheblich gemildert, aber beileibe noch nicht überwunden ist. Sie muss u. a. durch Aufarbeitung der damaligen Konflikte bewältigt werden. Denn Verarbeitung von Vergangenheit bedeutet Erarbeitung von Zukunft, während Verdrängen und Vergessen des Vergangenen dazu verurteilt, begangene Fehler zu wiederholen. Was bedeutet Aufarbeitung der Bannandrohungsbulle von 1520 für uns heute nach 500 Jahren?
Wir müssen erstens Bescheid wissen, was und warum es damals geschehen ist. Wer nicht weiß, was damals auf den Spiel stand, kann heute dessen Auswirkungen auch weder ermessen noch überwinden. Wir brauchen zweitens eine theologische Aufarbeitung der 41 verurteilten Sätze Luthers und seiner dafür gegebenen Begründungen. Vor gut 20 Jahren haben sich über 200 evangelische Theologieprofessoren öffentlich gegen die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre gewandt. Wo ist heute die Handvoll Theologen, die sich für die theologische Aufarbeitung der Bannandrohungsbulle einsetzen? Wir haben drittens seit dem Malta-Bericht von 1972 der internationalen evangelisch-lutherischen/ römisch-katholischen Kommission für die Einheit inzwischen mindestens 10 weitere Studienberichte erhalten, die zusammen mit dem Projekt „Lehrverurteilungen – kirchentrennend?“ von 1981 bis 1985 so gut wie alle kontroversen Themen zwischen evangelischer und katholischer Kirche aufgearbeitet haben. Heute ist auf diesem Hintergrund nur noch zu klären, ob es noch kirchentrennende Unterschiede gibt, die weiterer Aufarbeitung bedürfen wie z. B. die Papstfrage, und sie entschlossen anzugehen.
Abschließend ist zu fragen, welche Folgerungen wir heute aus den Vorgängen um die Bannandrohungsbulle damals zu ziehen haben. Ich nenne 3 Gesichtspunkte:
1. Damals verbot die Bannandrohungsbulle, Luthers Schriften zu lesen. Heute ist es ausgesprochen zu empfehlen, Luthers reformatorische Hauptschriften, seine Meisterwerke aus dem Jahr 1520 lesend zu vergegenwärtigen: An den christlichen Adel deutscher Nation; Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche; und vor allem: Von der Freiheit eines Christenmenschen.
2. Der Bannandrohungsbulle sind noch im selben Jahr die angekündigten Verbrennungen von Luthers Schriften in verschiedenen Städten gefolgt. Nach 500 Jahren kennen wir die erschütternden Folgen, nicht zuletzt aus nationalsozialistischer Zeit mit Berufung auf Martin Luther: Dem Verbrennen von Büchern ist nur zu leicht und zu schnell das Verbrennen von Menschen gefolgt. Beides darf sich nie mehr wiederholen.
3. Es ist Zeit für ein selbstkritisches öffentliches Wort der katholischen Kirche zur Bannandrohung und Exkommunikation Martin Luthers und aller seiner Anhänger. Es ist Zeit für ein selbstkritisches öffentliches Wort der evangelischen Kirche zur Verurteilung des Papsttums als „Antichrist“ in vier reformatorischen Bekenntnisschriften.